Das Pflichtteilsrecht ist eine der am meisten mißverstandenen Materien des deutschen Erbrechts. Zugleich begegnet es oftmals harscher Ablehnung seitens der Erblasser, die wenig Verständnis dafür haben, dass sie in der Bestimmung über das „von ihnen erarbeitete“ Vermögen eingeschränkt sein sollen – und dann auch noch im Hinblick auf ein „undankbares“ Kind.
Warum gibt es den Pflichtteil?
Der Gesetzgeber des BGB (der im Jahr 1900 natürlich noch von anderen gesellschaftlichen und sittlichen Maßstäben ausging) wollte die engsten Familienmitglieder mit einer Pflichtbeteiligung am Nachlass sozial absichern, insbesondere auch gegen dir Willkür des Erblassers. Er stellte damit die Familienbindung von Vermögen gegenüber der Privatautonomie des Testierenden in den Vordergrund.
Das kann man auch damit erklären, dass zu dieser Zeit vielfach über Generationen bestehendes Vermögen ererbt oder auf andere Art und Weise innerhalb der Familie weitergegeben wurde und darum weniger dem Erblasser selbst als Person und mehr als Teil seiner Familie zugeordnet wurde. Insoweit konnte es auch angemessen sein, dieses Vermögen mit einer solchen familiären Bindung auszustatten.
Ist das noch zeitgemäß?
Viele Stimmen bezweifeln das. Zum einen sind die heute zu übergebenden Vermögen größtenteils durch eigene Leistung des Erblassers entstanden. Darum ist es verständlich, dass dieser auch unbeschränkt darüber bestimmen möchte.
Außerdem ist gesellschaftlich der Gedanke der Eigenverantwortung stärker in den Vordergrund gerückt, so dass sich der Einzelne immer weniger darauf verlassen darf, durch Zuwendungen anderer (Staat, Familie) seine Lebensgrundlage zu bestreiten.
Zuletzt ist durch den demographischen Wandel das Ziel der Versorgung im Sinne einer Ausstattung der Kindergeneration für deren „Start ins Leben“ kaum noch erreichbar. Erbschaften fallen – wenn überhaupt – typischerweise erst an, wenn die Kinder bereits im mittleren Alter sind. Meist hat sich der Begünstigte zu diesem Zeitpunkt schon wirtschaftlich etabliert. Ist das nicht gelungen, ist fraglich, ob der „späte Pflichtteil“ daran Entscheidendes ändern kann.
Wer ist pflichtteilsberechtigt?
Nach § 2303 BGB können Abkömmlinge, Ehegatten und in Ausnahmefällen die Eltern des Erblassers den Pflichtteil verlangen, wenn sie durch Testament oder Erbvertrag von der Erbfolge ausgeschlossen sind.
Nicht pflichtteilsberechtigt sind entferntere Verwandte wie Geschwister, Neffen, Nichten, Cousinen und Cousins. Hier zeigt sich nochmals die Nähe zum Unterhaltsrecht: Pflichtteilsberechtigt ist typischerweise nur derjenige, der zu Lebzeiten vom Erblasser hätte Unterhalt fordern können.
Es ist nicht notwendig, dass der Berechtigte vollständig „enterbt“ wird. Den Pflichtteil kann er auch verlangen, wenn er im Testament mit weniger als dem Pflichtteil bedacht oder sein Erbe mit Beschränkungen oder Beschwerungen verbunden wird (z.B. Vor- und Nacherbschaft, Testamentsvollstreckung ), § 2306 BGB.
Vorsicht: Beim typischen Ehegattentestament, in dem sich die Ehegatten – der Erstversterbende den Längstlebenden – gegenseitig zu Erben einsetzen, sind die Kinder des Erstverstebenden bei dessen Ableben pflichtteilsberechtigt. Dies kann zu Störungen bei der geplanten Versorgung des Längstlebenden führen.
Wie groß ist der Pflichtteil?
Nach § 2303 BGB beträgt der Pflichtteilsanspruch die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Beim Ehegattenpflichtteil ist zusätzlich § 1371 BGB zu berücksichtigen, wenn der Erblasser im Güterstand der Zugewinngemeinschaft lebte.
Von großer Bedeutung ist daneben noch der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB. Dieser führt zu einer Erhöhung des Pflichtteilsanspruches, wenn der Erblasser in den zehn Jahren vor seinem Ableben Vermögenswerte verschenkt hat. In diesem Fall ist der Wert des Geschenkes in die Berechnung des Pflichtteils einzubeziehen.
Vorsicht: Bei Zuwendungen an den Ehegatten gilt die Ausschlussfrist nicht, so dass auch mehr als zehn Jahre zurückliegende Schenkungen berücksichtigt werden können.
Außerdem wird eine Schenkung nur wirksam akzeptiert, wenn der Schenker den Gegenstand dem Beschenkten endgültig „wirtschaftlich“ zuwendet. Zurückbehaltene Rechte wie Nießbrauch oder Rückforderungsmöglichkeiten sind hier schädlich.
Kann man den Pflichtteil entziehen?
Theoretisch ja, praktisch ist das allerdings schwierig. § 2333-2335 BGB normieren abschließend die Gründe, aus denen eine Pflichtteilsentziehung möglich ist. Der Grund ist im Testament anzugeben und muss ggf. bewiesen werden.
Bei den Gründen handelt es sich um so gravierende Verfehlungen, dass sie in typischen Fällen kaum vorkommen werden. Vorsicht: Das bloße persönliche Zerwürfnis oder die Entfremdung des Berechtigten reichen nicht aus – auch nicht wenn zwischen Erblasser und Berechtigtem jahrelang kein Kontakt bestanden hat.
Wie kann man den Pflichtteilsanspruch mindern?
Hierzu gibt es grundsätzlich drei Ansatzpunkte:
- Verringerung des gesetzlichen Erbanteils des Berechtigten
- Wahl eines günstigen Güterstandes/Realisierung des ehelichen Zugewinns
- Verringerung des Bestands des Nachlasses
Für den ersten Punkt sollte man unbedingt vermeiden, dass andere vorhandene gesetzliche Erben (z.B. weitere Abkömmlinge) Erbverzichte erklären. Dies führt zu einer Vergrößerung des Pflichtteils. Der Kreis der gesetzlichen Erben kann je nach persönlicher Situation durch Heirat oder Adoption vergrößert werden.
Im Hinblick auf den zweiten Punkt ist meistens der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft sinnvoll, weil dieser dem überlebenden Ehegatten die Hälfte des Nachlasses als gesetzliches Erbe zuweist. Je nach Struktur des Vermögens kann es auch sinnvoll sein, vor dem Erbfall den ehelichen Zugewinnausgleich durchzuführen, da derartige Vermögensverlagerungen ihre Rechtsgrundlage im ehelichen Güterrecht haben.
Wie bereits ausgeführt ist (zum dritten Punkt) eine Verringeruing des Nachlasses durch lebzeitige Schenkungen nur möglich, wenn dies 10 Jahre von dem Erbfall geschieht und der Gegenstand vollständig auf den Empfänger übergegangen ist. Je nach familiärer Situation (besonders bei der zweiten Ehe des Erblassers) ist genau darauf zu achten, dass das Vermögen eines pflichtteilsbelasteten Längstlebenden nicht durch den ersten Erbgang weiter erhöht wird. Hier ist es sinnvoll, durch Konstruktionen wie Vermächtnisse und Vor- und Nacherbschaft Vermögenswerte beim Tod des Erstversterbenden z.B. auf die Kinder übergehen zu lassen. Bei geschickter Gestaltung führt dies auch nicht zu einer wirtschaftlichen Belastung des Längstlebenden.
Vorsicht: Wenn sie an derartigen Strategein interessiert sind, sollten Sie unbedingt fachlichen Rat beim Notar und/oder Steuerberater einholen, da entstehende Risikosituationen vom Laien oftmals nicht erkannt oder unterschätzt werden,
Wird sich die Situation bald ändern?
Wahrscheinlich ja, aber nicht entscheidend. Die Bundesregierung arbeitet an einer Erbrechtsreform, die im Kern folgende Punkte beinhaltet:
- Die Pflichtteilsentziehungsgründe werden moderat reformiert. Dennoch bleibt eine Entziehung wegen bloßer persönlicher Entfremdung nicht zulässig.
- Der Erblasser kann den Pflichtteil reduzieren, indem er (auch nachträglich) anordnet, dass sich der Berechtigte Zuwendungen, die er bereits lebzeitig empfangen hat auf sein Pflichtteil anrechnen lassen muss.
- Die Ausschlussfrist für den Pflichtteilsergänzungsanspruch wird „gleitend“, so dass eine Übertragung von Vermögensgegenständen bereits nach einem Jahr (und in den folgejahren steigend) anteilig bei der Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs einbezogen werden muss.
- Pflegeleistungen sind im Zusammenhang mit Erbausgleich und Pflichtteil besser anrechenbar.